Gestatten, ich bin ein Flüchtling

In Deutschland

Ein fiktiver Brief aus den Tiefen des Meeres, stellvertretend für einen Teil des Schmerzes, der seit Jahrhunderten vom Gewissen der Menschheit überhört wird.

Liebes Europa,
ich grüße dich und bevor du dich geschwind abwendest und mir deinen kalten Rücken zeigst, lass mich dir sagen, dass ich keine Hand ausstrecke und dass ich dich nicht anbetteln werde. Ich will lediglich einen Teil deiner Zeit, und nicht das Kleingeld in deiner Brieftasche. Ich will, dass du mir zuhörst, nur ein einziges Mal.
Wenn nicht für mich, dann für die Geschichtsbücher unserer kollektiven Geschichte, die das Meer auf dem sandigen Grund seiner unvergesslichen Tiefen niederschreibt. Zumindest auf einer Seite unseres Buches sollte stehen, dass du mir zugehört hast. Ein einziges Mal soll darin stehen, dass sich der weiße Mann, der mir alles nahm, ein wenig Zeit für mich nahm.
Liebes Europa,
glaub mir, es war nicht einfach, als ich die von der Feldarbeit spröd gewordenen Hände meiner Frau das letzte Mal drückte. Es war nicht einfach, als ich so tat, als würde ich nicht weinen, nur um in ihrer Anwesenheit stark zu sein. Glaube mir liebes Europa, es war nicht einfach, das letzte Mal in das vom Kummer früh mit Falten bemalte Gesicht meiner Mutter zu sehen, die Träne zu verfolgen, die den Weg zu ihrer Wange fand, und in ihr schmolz. Was hätte ich dafür gegeben, diese Träne zu sein.
Zu meinem Sohn ging ich allein. Er liegt am Dorfrand. Ich habe wirklich alles versucht, jeden Job angenommen, zwei und drei Schichten am Stück gearbeitet. Für seine Medizin reichte es jedoch nicht. Ich wollte ihn zur Schule, zum Sport und in die Universität tragen. Am Ende trug ich ihn zum Friedhof. Wahrlich, die kleinsten Särge wiegen doch am meisten.

Liebes Eruopa,
es war nicht einfach, in ein Boot zu steigen, und das Schicksal in die Hände der Fluten zu geben. Es war nicht einfach, in ein Boot zu steigen, um zu ertrinken. Hast du jemals jemanden gesehen, der zwei Mal ertrunken ist? Ich ertrank im Meer, das unsere Kontinente trennt, und ich ertrank im Meer der Sehnsucht nach Mutter, Frau und Heimat… bereits nach der ersten Sekunde.

Liebes Europa,
ich kam nicht freiwillig zu dir. Du hast mich gezwungen. Du stahlst meinen Vorfahren ihre Würde, verfrachtetest und verkauftest sie. Du nahmst ihnen ihre Zukunft, und unsere Identität.
Du errichtetest Kolonien, nahmst jeden Schatz und jede Frucht. Und als du gingst, hast du Herrscher hinterlassen, die dich vertreten. Sie tragen deinen Skrupel, deine Gier und deine Waffen in den Händen.

Liebes Europa,
ich habe deinen 10-Punkte-Plan nach den Mittelmeerkatastrophen gründlich gelesen.Er ist genau so rücksichtslos wie die letzten Jahrhunderte, die wir gemeinsam hatten. Liebes Europa, behalte deinen Plan.,
lass mich doch bitte in Ruhe. Misch dich nicht mehr in meine Angelegenheiten ein, lass die Finger von unseren Ressourcen und zettle keine Kriege mehr an, um deine Waffen zu verkaufen. Halte dich bitte daran, und wir steigen auf keine Boote mehr. Versprochen. Und wenn du jemals Hilfe brauchen solltest und Boote in unsere Richtung besteigst, so bist du herzlich willkommen. Ich werde dich nicht ertrinken lassen.

Mehdi Chahrour

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