„Mein Kind hat ADHS. Was bedeutet das für uns als Familie? Was können wir tun, um es zu unterstützen?“ Dieser Artikel soll Familien dabei helfen, sich über AD(H)S zu informieren und einen Überblick über Diagnostik, Therapiemethoden und eigene Möglichkeiten des Umgangs mit AD(H)S in der Familie zu erhalten.
Erscheinungsbild, Symptome – „Welche Probleme hat mein Kind?“
Bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivität – AD(H)S – handelt es sich um eine Gruppe von Störungen, die vor dem 7. Lebensjahr beginnt. Drei Kernsymptome sind hier wichtig:
- Aufmerksamkeitsstörungen: das Kind bricht Aufgaben vorzeitig ab oder führt angefangene Aktivitäten nicht zu Ende, vor allem, wenn sie geistig anstrengend oder von außen vorgegeben sind (z.B. Hausaufgaben); Aktivitäten werden oft gewechselt, da das Kind leicht ablenkbar ist
- Hyperaktivität: das Kind ist sehr ruhelos und ungeordnet aktiv, besonders in strukturierten Situationen, in denen es sich stark selbst kontrollieren soll (z.B. beim Stillsitzen in der Schule)
- Impulsivität: das Kind reagiert plötzlich, ohne zu überlegen; es kann nicht abwarten oder seine Bedürfnisse aufschieben; bei Ungerechtigkeiten kann es zu Wutanfällen kommen, die die familiäre und schulische Situation zusätzlich stark belasten können.
Die Symptome treten in verschiedenen Lebensbereichen auf, z.B. in der Schule und zu Hause, können aber unterschiedlich stark ausgeprägt sein. So ist es möglich, dass die motorische Unruhe weniger ausgeprägt ist, während die Aufmerksamkeitsproblematik im Vordergrund steht. In bestimmten Situationen treten die Verhaltensweisen nur abgeschwächt oder gar nicht auf, z.B. in Einzelsituationen mit einem Erwachsenen, dem Kind unheimlichen Situationen (z.B. beim Arzt) oder bei neuen und interessanten Tätigkeiten (z.B. das Kind braucht Stunden für die Hausaufgaben, kann aber ohne weiteres über lange Zeit konzentriert PC-Spiele spielen). Man sollte hier keinesfalls schlussfolgern, „dass das Kind sich ja konzentrieren kann, wenn es nur will“! Ausschlaggebend ist zudem die Orientierung am Entwicklungsstand des Kindes. Die oben beschriebenen Verhaltensweisen sollen nur dann zu einer AD(H)S-Diagnose führen, wenn sie im Verhältnis zum Alter und zum Intelligenzniveau des Kindes stark ausgeprägt sind. So ist zum Beispiel ein hohes Maß an körperlicher Aktivität bei kleineren Kindern durchaus im Rahmen der normalen Variationsbreite in dieser Alterststufe und bedeutet nicht gleich einen Grund zur Sorge.
Ursachen – „Haben wir als Eltern etwas falsch gemacht?“
Nein! Aktuell wird eine weitgehend neurobiologische Verursachung angenommen. Das heißt: Erbfaktoren bilden die Grundlage für das Zusammenwirken von neuroanatomischen und neurochemischen Wirkmechanismen, die durch soziale Bedingungen und Umwelteinflüsse günstig oder ungünstig beeinflusst werden können. Das Auftreten einer AD(H)S kann also von den Eltern im Allgemeinen nicht verhindert werden, aber die Auswirkungen der Störung (Schulleistungsprobleme, aggressives Verhalten, Schwierigkeiten in Freundschaften zu Gleichaltrigen, Selbstwertprobleme) können durch unten beschriebene Hilfsmöglichkeiten für das Kind und die Familie abgeschwächt werden.
Diagnostik – „Wie wird AD(H)S festgestellt? An wen kann ich mich wenden?“
Für die Feststellung einer AD(H)S ist eine ausführliche Diagnostik erforderlich. Aussagen wie „ich sehe sofort, ob ein Kind AD(H)S hat“ sind unseriös und sollten Sie als Eltern misstrauisch machen. Um eine solche Diagnose zu stellen sind unter anderem die Erhebung der Lebensgeschichte des Kindes, Beobachtungen des Verhaltens in verschiedenen Situationen (z.B. Schule, zu Hause, Hort) sowie verschiedene Testverfahren erforderlich. Eventuell bestehende andere Gründe für Aufmerksamkeitsprobleme (z.B. unruhige Umgebung, psychische Belastungen, dauernde Lärmbelästigung, Hör- oder Sehprobleme….) müssen ausgeschlossen werden. Anlaufstellen für Diagnostik und Beratung sind die Psychologischen Fachdienste des Bezirks (Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste oder Schulpsychologische Beratungszentren) sowie Sozialpädiatrische Zentren und niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater. Hier ist es oft hilfreich, Eltern nach ihren Erfahrungen zu fragen, deren Kind ebenfalls die Diagnose AD(H)S erhalten hat.
Therapieformen – „Was ändert sich durch eine Therapie jetzt für uns?“
Durch eine Psychotherapie, in die sowohl die Familie als auch weitere wichtige Bezugssysteme des Kindes (Kindergarten, Schule Hort..) einbezogen werden sollten, kann das Kind lernen, sein Verhalten besser zu steuern, konzentrierter und zielbezogener zu arbeiten und Signale aus der Umwelt (wie z.B. die Grenzsetzung anderer), die es aufgrund der inneren Anspannung und des Abgelenktseins oft übersehen hat, besser wahrzunehmen. Mit der Familie wird auf verschiedenen Ebenen gearbeitet, z.B. durch die Ausarbeitung eines Belohnungssystems für positives Verhalten oder das Einüben hilfreicher Erziehungsmethoden (z.B. klare Kommunikation und Grenzsetzung, Förderung der Stärken des Kindes, Umgang mit Misserfolgen). Das Thema der Medikamentengabe wird sehr kontrovers diskutiert. Medikamente „heilen“ nicht die Störung, sie können aber dem Kind helfen, mehr innere Ruhe zu erlangen, um neue, hilfreiche Verhaltensweisen einüben zu können. Die Sinnhaftigkeitkeit einer Medikamentengabe sollte mit dem verschreibenden Arzt daher ausführlich besprochen und keinesfalls als alleinige Therapiemaßnahme eingesetzt werden.
Durch die eingeschränkte Fähigkeit von AD(H)S-Kindern, sich selbst zu strukturieren und einem gering ausgeprägten Zeitgefühl ist es wichtig, so viel Struktur wie möglich in den Alltag zu bringen: Hausaufgaben werden am besten in Teilschritte unterteilt und an einem aufgeräumten, ruhigen Arbeitsplatz am immer gleichen Ort mit wenig Ablenkung erledigt. Da geistige Anstrengung für das Kind oft schwierig ist, ist es wichtig, bereits die Anstrengung selbst zu loben, ebenso die von Ihnen gewünschten Verhaltensweisen. Aufgrund der häufigen Kritik, die das Kind in allen möglichen Bereichen bekommt, ist für die Stärkung des Selbstbewusstseins viel Lob und Anerkennung und die Förderung von Stärken und positiven Kontakten (z.B im Sport, im kreativen Bereich oder bei hilfsbereitem Verhalten anderen gegenüber) sehr wichtig. Hierzu zählt auch ein respektvoller Umgang mit dem Kind und innerhalb der Familie. Das Verhalten des Erwachsenen sollte soweit wie möglich berechenbar und nachvollziehbar sein. Das Einbeziehen des Kindes in die Planungen verhindert, dass es sich übergangen und ungerecht behandelt fühlt. Ein AD(H)S-Kind ist meist nicht in der Lage, mehrere Regeln gleichzeitig zu beachten. Es ist daher sinnvoll, sich als Eltern auf die wichtigsten Regeln zu einigen und diese nacheinander mit dem Kind zu üben. Konsequenzen für negatives Verhalten wie Besprechen der Situation und Möglichkeiten der Wiedergutmachung sollten zeitnah erfolgen, da das Kind ansonsten nicht mehr weiß, was es falsch gemacht hat. Eine Ausnahme bilden hier evtl. auftretende Wutanfälle des Kindes, da es etwas Zeit braucht um sich wieder zu beruhigen, bevor es die Situation noch einmal betrachten kann. Hier ist Klarheit und Gelassenheit gefragt, keine stundenlangen Grundsatzdiskussionen, die das Kind mitunter recht lange durchhält. Dringend notwendig für Eltern eines AD(H)S-Kindes ist die Grundhaltung, dass das Kind sich meist nicht absichtlich so verhält, sondern wie jedes andere Kind gemocht werden will, erfolgreich und anerkannt sein möchte! Die AD(H)S-Problematik ist nur ein Teil der Persönlichkeit Ihres Kindes. Es verfügt auch über viele gute, originelle und interessante Eigenschaften und Verhaltensweisen, über die sich Eltern freuen können. Um dies auch immer wieder wahrnehmen zu können, was aufgrund der Probleme oft schwer fällt, ist es sehr wichtig, sich als Eltern auch immer wieder selbst einen Ausgleich zu gönnen um zur eigenen Gelassenheit zurückzufinden.
Autorin: Karin Widmann, Psychologin im Legasthenie-Zentrum Neukölln